Peter Gill, playwright and theatre director
Wir brauchen einander
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Nordsee - Ölbild von D.H. Lawrence„Wir brauchen einander"

Wir können es ruhig zugeben: Männer und Frauen brauchen einander. Wir können — nach all unserm Wider-denStachel-Löcken und AufsässigSein und Schmollen — ruhig nachgeben und guten Willen zeigen. Wir sind allesamt Individualisten; wir sind allesamt Egoisten; wir glauben allesamt inbrünstig an die Freiheit — an unsre eigene sowieso. Wir wollen allesamt unabhängig und selbständig sein. Und für unsre Selbstachtung ist es ein schwerer Schlag, daß wir ein andres menschliches Lebewesen schlechterdings nötig haben. Es macht uns nichts aus, leichten Herzens unter den Frauen eine Wahl zu treffen (oder unter den Männern, falls wir eine Frau sind). Aber wenn wir uns dann zu dem garstigen, stacheligen Kern der Sache bereitfinden und eingestehen müssen: „Großer Gott, ohne dieses widerspenstige Ding, meine Frau, kann ich einfach nicht leben", dann empfinden wir das in unsrer dünkelhaften Abkapselung als furchtbar demütigend.

Und so steht es auch mit unserm großartigen Individualismus. Reduziert doch mal irgendeinen von uns auf das bloße Individuum, das wir sind, und was werden wir dann? Wir, wunderbare Geschöpfe, werden zu wertlosen, eingebildeten kleinen modernen Egoisten, die all die feineren menschlichen Bindungen zerrissen haben und ihre Ansprüche auf Überlegenheit nur auf ihre eigene Leere und Nichtigkeit stützen können. Doch man kommt den Leeren auf die Spur! Denn die Leere klappert ziemlich laut und kann nur für kurze Zeit täuschen.

Solange wir gesund und positiv bleiben, suchen wir die ganze Zeit eine echte menschliche Beziehung zu andern Menschen zu bekommen. Doch das, diese Beziehung, muß sich beinah unbewußt ergeben. Absichtlich können wir mit einer menschlichen Beziehung nicht viel anderes anstellen als sie zerstören: das ist meistens nicht schwierig. Im positiven Falle können wir sie höchstens in aller Behutsamkeit sich vollziehen lassen, ohne daß wir uns einmischen öder sie erzwingen.

Wir kranken an einer falschen Auffassung von uns selber. Seit Jahrhunderten ist der Mann der erobernde Held gewesen, und die Frau war nur die Sehne auf seinem Bogen, nur ein Teil seiner Ausrüstung. Dann wurde der Frau gestattet, eine eigene Seele zu haben, eine separate, unabhängige Seele. Und damit begann die Geschichte mit dem Anderssein und all dem Lärm um Freiheit und Unabhängigkeit. Heute sind Themen wie Freiheit und Unabhängigkeit ziemlich überholt, sie führen zu einem leeren Nirgendwo, zum Müllhaufen all unsrer toten Gefühle und vergeblichen Illusionen. Die Sache mit dem Eroberer-Helden ist so veraltet wie der Marschall Hindenburg und ungefähr ebenso erfolgreich. Heute bemüht man sich, diesen alten Trick wiederaufleben zu lassen, aber am Ende erweist es sich doch meistens als töricht.

Der Mann ist nicht länger ein erobernder Held. Genausowenig ist er eine erhabene Seele, die isoliert und allein im Universum schwebt und dem Unbekannten in der Ewigkeit des Todes gegenübertritt. Auch dieser Trick ist überholt, obwohl die pathetischen Herrchen von heute immer wieder darauf zurückkommen, besonders jene pathetischen Herrchen, die völlig im egoistischen Pathos ihrer Leiden während des letzten Krieges aufgehen.

Aber beide Tricks sind überholt, sowohl der erobernde Held wie der pathetische Held, der in seinen Leiden aufgeht und der Ewigkeit in der äußersten Isolation der Seele gegenübertritt. Der zweite Trick ist natürlich heute der beliebtere von beiden und kann dem sich selbst bemitleidenden, veralteten Exemplar der jungen Generation noch immer gefährlich werden. Doch trotz allem ist es ein überlebter Trick, der tot und erledigt ist. Heutzutage muß der Mensch endlich zugeben, daß all diese fixen Ideen nichts taugen. Als ein fest umrissenes Objekt, sogar als Individualität oder Persönlichkeit bedeutet der Mensch, ob Mann oder Frau, heutzutage nicht viel. Das große ICH BIN bezieht sich nicht auf Menschen, daher sollten sie es lieber in Ruhe lassen. Sobald irgend jemand, ob Mann oder Frau, ein großes ICH BIN wird, ist er ein Nichts geworden. Ob Mann oder Frau, jeder ist ein Fluß, ist fließendes Leben. Und ohne einander können wir nicht weiterfließen, genausowenig wie ein Fluß ohne seine Ufer dahinströmen kann. Das eine Ufer meines Lebensflusses ist eine Frau, und das andre Ufer ist die Welt.

Und das ist es auch, was mir eine Seele verleiht. Ein Mann, der nie eine starke Beziehung zu einem andern menschlichen Lebewesen hatte, besitzt im Grunde keine Seele. Wir können nicht recht glauben, daß Immanuel Kant jemals eine Seele hatte. Eine Seele ist etwas, das sich dank meiner Kontakte und meiner lebendigen Beziehungen mit Menschen heranbildet und erfüllt, die ich geliebt oder gehaßt oder wahrhaft gekannt habe. Ich kam mit dem Stichwort für meine Seele auf die Welt. Die Vollendung meiner Seele muß ich erst noch zustande bringen. Und mit meiner Seele meine ich mich als Ganzheit. Woran wir heute kranken, das ist das fehlende Gefühl für unsre Ganzheit oder Vollendung, und die ist Frieden.

Sex versus Schönheit

Nichts ist häßlicher als ein Mensch, in dem das Sex-Feuer erloschen ist. Ein widerliches, teigiges Geschöpf bleibt übrig, dem jedermann aus dem Wege geht.

Pornographie und Obszönität

Der ehemalige britische Kultusminister, der sich rühmt, ein sehr aufrichtiger Puritaner zu sein, grau bis in die letzte Faser, erklärte einmal voller Kummer und Empörung in einem seiner Ausfälle gegen unziemliche Bücher: „... und diese beiden jungen Menschen, die bis dahin völlig rein gewesen waren, gingen nach dem Lesen jenes Buches hin und hatten Geschlechtsverkehr miteinander!!!" Alles, was ich darauf erwidern kann, ist: „Ein Punkt für die beiden!" Doch der graue Hüter britischer Moral glaubte anscheinend, es wäre viel besser gewesen, wenn sie sich gegenseitig ermordet oder in nervöser Überspanntheit selbst zugrunde gerichtet hätten. Die graue Pest, kann ich nur sagen!

Was ist denn nun Pornographie? Es ist weder Sex-Appeal noch geschlechtliche Erregung durch die Kunst. Es ist nicht einmal die vorsätzliche Absicht des Künstlers, sexuelle Gefühle zu wecken oder zu erregen. An sexuellen Gefühlen gibt es nichts auszusetzen, solange sie offen und ehrlich sind und nicht verstohlen und heimlich. Die richtige Art geschlechtlicher Erregung ist im menschlichen Alltag überaus wertvoll. Ohne sie wäre die Welt grau und Öde. Pornographie ist der Versuch, das Geschlecht zu beleidigen und mit Schmutz zu bewerfen.

Gib ihr eine Rolle

Die wahre Tragödie besteht nun nicht darin, daß die Frauen eine Rolle verlangen und verlangen müssen. Die Tragödie besteht auch nicht darin, daß die Männer ihnen so abscheuliche Rollen zuweisen wie Kindfrauen, kleine Bubigesicht-Mädchen, perfekte Sekretärinnen, edle Gattinnen, sich aufopfernde Mütter, reine Frauen, die in jungfräulicher Kühle ein Kind nach dem anderen produzieren, oder Prostituierte, die sich dem Mann zuliebe erniedrigen — all die gräßlichen Rollen, die den Frauen von den Männern aufgedrängt werden, Rollen, die den ganzen natürlichen und echten Reichtum eines menschlichen Wesens verzerren. Der Mann ist willens, die Frau als seinesgleichen zu akzeptieren, als einen Mann in Weiberröcken, als einen Engel, einen Teufel, ein Babygesicht, als eine Maschine, ein Werkzeug, einen Busen, eine Gebärmutter, ein Paar Beine, eine Dienerin, eine Enzyklopädie, als eine Idealgestalt oder eine Obszönität — nur als eins will er sie nicht akzeptieren: als ein menschliches Wesen weiblichen Geschlechts.

D. H. Lawrence in: Pornographie und Obszönität (1971)

Es fehlt uns an Irrieden, weil wir nicht „ganz" sind. Und wir sind nicht ganz, weil wir nur einen Bruchteil der lebendigen Beziehungen erlebt haben, die wir hätten haben können. Wir leben in einem Zeitalter, das an das Abblättern der menschlichen Beziehungen glaubt. Blättert sie ab, wie eine Zwiebel, bis ihr auf das absolute oder unfruchtbare Nichts stoßt! Auf die Leere! Dorthin sind die meisten Menschen heute gekommen: zum Wissen um ihre eigene, vollständige Leere. Sie wollten so unbedingt „sie selber" sein, daß sie überhaupt nichts wurden, oder beinah nichts:

Es ist nicht sehr erfreulich, beinah nichts zu sein. Und dabei sollte das Leben Freude sein, die größte Freude! Nicht bloß so ein „Sich-gut-Amüsieren", um „von sich selber wegzukommen". Denn die richtige Freude besteht darin, daß du du-selbst bist. Den Menschen stehen nun also zwei große Beziehungen offen: die Beziehung vom Mann zur Frau, und die Beziehung von Mann zu Mann. Wir haben uns in bezug auf die eine wie auf die andre hoffnungslos verrannt.

Wenn wir nur vernünftiger wären! Aber wir werden von ein paar fixen Ideen über Sex und Geld in Bann gehalten, „wie man sein sollte" und so weiter, und dabei verpassen wir das eigentliche Leben. Sex ist etwas Unbeständiges, bald lebendig, bald still, bald feurig, bald scheinbar ganz verpufft, ganz verpufft. Doch der Durchschnittsmann und die Durchschnittsfrau haben nicht genug „Mumm", um das Geschlechtliche in seiner Vielgestalt hinzunehmen. Sie verlangen grobe, primitive geschlechtliche Begierde, immer verlangen sie nur das, und wenn es nicht da ist, dann wird bumms und bäng! - die ganze Geschichte in Stücke geschlagen. Ich laß mich scheiden! Ich laß mich scheiden!

Ich habe es so satt, daß mir dauernd gesagt wird, ich wolle die Menschheit in den Urzustand von Barbaren zurückversetzen. Als ob der moderne Großstädter nicht der ungefähr primitivste, barbarischste Rohling wäre, den es je gegeben hat, wenn es sich um die Beziehung zwischen Mann und Frau dreht. In unsrer vielgepriesenen Zivilisation sehe ich nur, daß Männer und Frauen einander gefühlsmäßig und seelisch zerstören, und ich verlange weiter nichts, als daß sie innehalten und ein wenig nachdenken.

Denn Sex bedeutet für mich die Beziehung zwischen Mann und Frau in ihrer Ganzheit. Diese Beziehung ist aber viel größer, als wir es wissen. Wir kennen nur ein paar simple Erscheinungsformen: Mätresse, Ehefrau, Mutter, Schatz. Die Frau ist wie ein Idol oder wie eine Marionette: ständig wird sie gezwungen, die eine oder andre Rolle zu spielen: als Schatz, als Mätresse, als Ehefrau oder als Mutter. Wenn wir doch diesen starren Rahmen durchbrechen und begreifen könnten, daß die Frau ein Fluß ist, ein Lebensstrom, ganz anders als der Lebensstrom des Mannes, und daß jeder Fluß in seinem eigenen Bett fließen muß, ohne über die Ufer zu treten, und daß die Beziehung zwischen Mann und Frau wie ein Weiterfluten der beiden Flüsse ist, Seite an Seite, manchmal sogar sich vermischend, dann wieder sich trennend und weiterziehend. Es ist eine lebenslängliche Veränderung und ein lebenslängliches Weiterziehen. Und das verstehe ich unter Sex. Zu gewissen Zeiten verschwindet die SexBegierde völlig. Doch das Dahinströmen geht trotzdem weiter, ohne aufzuhören, und das ist das Strömen des lebendigen Geschlechts, der Beziehung zwischen Mann und Frau, die ein ganzes Leben währt und von der die SexBegierde nur eine, wenn auch eine sehr lebensprühende, Manifestation ist.

D. H. Lawrence (1930)

 

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Last modified: 2012-03-15