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„Wir
brauchen einander"
Wir können es ruhig zugeben: Männer und Frauen brauchen einander. Wir können
— nach all unserm Wider-denStachel-Löcken und AufsässigSein und Schmollen —
ruhig nachgeben und guten Willen zeigen. Wir sind allesamt Individualisten; wir
sind allesamt Egoisten; wir glauben allesamt inbrünstig an die Freiheit — an
unsre eigene sowieso. Wir wollen allesamt unabhängig und selbständig sein. Und
für unsre Selbstachtung ist es ein schwerer Schlag, daß wir ein andres
menschliches Lebewesen schlechterdings nötig haben. Es macht uns nichts aus,
leichten Herzens unter den Frauen eine Wahl zu treffen (oder unter den Männern,
falls wir eine Frau sind). Aber wenn wir uns dann zu dem garstigen, stacheligen
Kern der Sache bereitfinden und eingestehen müssen: „Großer Gott, ohne dieses
widerspenstige Ding, meine Frau, kann ich einfach nicht leben", dann empfinden
wir das in unsrer dünkelhaften Abkapselung als furchtbar demütigend.
Und so steht es auch mit unserm großartigen Individualismus. Reduziert doch
mal irgendeinen von uns auf das bloße Individuum, das wir sind, und was werden
wir dann? Wir, wunderbare Geschöpfe, werden zu wertlosen, eingebildeten kleinen
modernen Egoisten, die all die feineren menschlichen Bindungen zerrissen haben
und ihre Ansprüche auf Überlegenheit nur auf ihre eigene Leere und Nichtigkeit
stützen können. Doch man kommt den Leeren auf die Spur! Denn die Leere klappert
ziemlich laut und kann nur für kurze Zeit täuschen.
Solange wir gesund und positiv bleiben, suchen wir die ganze Zeit eine echte
menschliche Beziehung zu andern Menschen zu bekommen. Doch das, diese Beziehung,
muß sich beinah unbewußt ergeben. Absichtlich können wir mit einer menschlichen
Beziehung nicht viel anderes anstellen als sie zerstören: das ist meistens nicht
schwierig. Im positiven Falle können wir sie höchstens in aller Behutsamkeit
sich vollziehen lassen, ohne daß wir uns einmischen öder sie erzwingen.
Wir kranken an einer falschen Auffassung von uns selber. Seit Jahrhunderten
ist der Mann der erobernde Held gewesen, und die Frau war nur die Sehne auf
seinem Bogen, nur ein Teil seiner Ausrüstung. Dann wurde der Frau gestattet,
eine eigene Seele zu haben, eine separate, unabhängige Seele. Und damit begann
die Geschichte mit dem Anderssein und all dem Lärm um Freiheit und
Unabhängigkeit. Heute sind Themen wie Freiheit und Unabhängigkeit ziemlich
überholt, sie führen zu einem leeren Nirgendwo, zum Müllhaufen all unsrer toten
Gefühle und vergeblichen Illusionen. Die Sache mit dem Eroberer-Helden ist so
veraltet wie der Marschall Hindenburg und ungefähr ebenso erfolgreich. Heute
bemüht man sich, diesen alten Trick wiederaufleben zu lassen, aber am Ende
erweist es sich doch meistens als töricht.
Der Mann ist nicht länger ein erobernder Held. Genausowenig ist er eine
erhabene Seele, die isoliert und allein im Universum schwebt und dem Unbekannten
in der Ewigkeit des Todes gegenübertritt. Auch dieser Trick ist überholt, obwohl
die pathetischen Herrchen von heute immer wieder darauf zurückkommen, besonders
jene pathetischen Herrchen, die völlig im egoistischen Pathos ihrer Leiden
während des letzten Krieges aufgehen.
Aber beide Tricks sind überholt, sowohl der erobernde Held wie der
pathetische Held, der in seinen Leiden aufgeht und der Ewigkeit in der äußersten
Isolation der Seele gegenübertritt. Der zweite Trick ist natürlich heute der
beliebtere von beiden und kann dem sich selbst bemitleidenden, veralteten
Exemplar der jungen Generation noch immer gefährlich werden. Doch trotz allem
ist es ein überlebter Trick, der tot und erledigt ist. Heutzutage muß der Mensch
endlich zugeben, daß all diese fixen Ideen nichts taugen. Als ein fest
umrissenes Objekt, sogar als Individualität oder Persönlichkeit bedeutet der
Mensch, ob Mann oder Frau, heutzutage nicht viel. Das große ICH BIN bezieht sich
nicht auf Menschen, daher sollten sie es lieber in Ruhe lassen. Sobald irgend
jemand, ob Mann oder Frau, ein großes ICH BIN wird, ist er ein Nichts geworden.
Ob Mann oder Frau, jeder ist ein Fluß, ist fließendes Leben. Und ohne einander
können wir nicht weiterfließen, genausowenig wie ein Fluß ohne seine Ufer
dahinströmen kann. Das eine Ufer meines Lebensflusses ist eine Frau, und das
andre Ufer ist die Welt.
Und das ist es auch, was mir eine Seele verleiht. Ein Mann, der nie eine
starke Beziehung zu einem andern menschlichen Lebewesen hatte, besitzt im Grunde
keine Seele. Wir können nicht recht glauben, daß Immanuel Kant jemals eine Seele
hatte. Eine Seele ist etwas, das sich dank meiner Kontakte und meiner lebendigen
Beziehungen mit Menschen heranbildet und erfüllt, die ich geliebt oder gehaßt
oder wahrhaft gekannt habe. Ich kam mit dem Stichwort für meine Seele auf die
Welt. Die Vollendung meiner Seele muß ich erst noch zustande bringen. Und mit
meiner Seele meine ich mich als Ganzheit. Woran wir heute kranken, das ist das
fehlende Gefühl für unsre Ganzheit oder Vollendung, und die ist Frieden.
Sex versus Schönheit
Nichts ist häßlicher als ein Mensch, in dem das Sex-Feuer erloschen ist.
Ein widerliches, teigiges Geschöpf bleibt übrig, dem jedermann aus dem Wege
geht.
Pornographie und Obszönität
Der ehemalige britische Kultusminister, der sich rühmt, ein sehr
aufrichtiger Puritaner zu sein, grau bis in die letzte Faser, erklärte
einmal voller Kummer und Empörung in einem seiner Ausfälle gegen unziemliche
Bücher: „... und diese beiden jungen Menschen, die bis dahin völlig rein
gewesen waren, gingen nach dem Lesen jenes Buches hin und hatten
Geschlechtsverkehr miteinander!!!" Alles, was ich darauf erwidern kann, ist:
„Ein Punkt für die beiden!" Doch der graue Hüter britischer Moral glaubte
anscheinend, es wäre viel besser gewesen, wenn sie sich gegenseitig ermordet
oder in nervöser Überspanntheit selbst zugrunde gerichtet hätten. Die graue
Pest, kann ich nur sagen!
Was ist denn nun Pornographie? Es ist weder Sex-Appeal noch
geschlechtliche Erregung durch die Kunst. Es ist nicht einmal die
vorsätzliche Absicht des Künstlers, sexuelle Gefühle zu wecken oder zu
erregen. An sexuellen Gefühlen gibt es nichts auszusetzen, solange sie offen
und ehrlich sind und nicht verstohlen und heimlich. Die richtige Art
geschlechtlicher Erregung ist im menschlichen Alltag überaus wertvoll. Ohne
sie wäre die Welt grau und Öde. Pornographie ist der Versuch, das Geschlecht
zu beleidigen und mit Schmutz zu bewerfen.
Gib ihr eine Rolle
Die wahre Tragödie besteht nun nicht darin, daß die Frauen eine Rolle
verlangen und verlangen müssen. Die Tragödie besteht auch nicht darin, daß
die Männer ihnen so abscheuliche Rollen zuweisen wie Kindfrauen, kleine
Bubigesicht-Mädchen, perfekte Sekretärinnen, edle Gattinnen, sich
aufopfernde Mütter, reine Frauen, die in jungfräulicher Kühle ein Kind nach
dem anderen produzieren, oder Prostituierte, die sich dem Mann zuliebe
erniedrigen — all die gräßlichen Rollen, die den Frauen von den Männern
aufgedrängt werden, Rollen, die den ganzen natürlichen und echten Reichtum
eines menschlichen Wesens verzerren. Der Mann ist willens, die Frau als
seinesgleichen zu akzeptieren, als einen Mann in Weiberröcken, als einen
Engel, einen Teufel, ein Babygesicht, als eine Maschine, ein Werkzeug, einen
Busen, eine Gebärmutter, ein Paar Beine, eine Dienerin, eine Enzyklopädie,
als eine Idealgestalt oder eine Obszönität — nur als eins will er sie nicht
akzeptieren: als ein menschliches Wesen weiblichen Geschlechts.
D. H. Lawrence in: Pornographie und Obszönität (1971) |
Es fehlt uns an Irrieden, weil wir nicht „ganz" sind. Und wir sind nicht
ganz, weil wir nur einen Bruchteil der lebendigen Beziehungen erlebt haben, die
wir hätten haben können. Wir leben in einem Zeitalter, das an das Abblättern der
menschlichen Beziehungen glaubt. Blättert sie ab, wie eine Zwiebel, bis ihr auf
das absolute oder unfruchtbare Nichts stoßt! Auf die Leere! Dorthin sind die
meisten Menschen heute gekommen: zum Wissen um ihre eigene, vollständige Leere.
Sie wollten so unbedingt „sie selber" sein, daß sie überhaupt nichts wurden,
oder beinah nichts:
Es ist nicht sehr erfreulich, beinah nichts zu sein. Und dabei sollte das
Leben Freude sein, die größte Freude! Nicht bloß so ein „Sich-gut-Amüsieren", um
„von sich selber wegzukommen". Denn die richtige Freude besteht darin, daß du
du-selbst bist. Den Menschen stehen nun also zwei große Beziehungen offen: die
Beziehung vom Mann zur Frau, und die Beziehung von Mann zu Mann. Wir haben uns
in bezug auf die eine wie auf die andre hoffnungslos verrannt.
Wenn wir nur vernünftiger wären! Aber wir werden von ein paar fixen Ideen
über Sex und Geld in Bann gehalten, „wie man sein sollte" und so weiter, und
dabei verpassen wir das eigentliche Leben. Sex ist etwas Unbeständiges, bald
lebendig, bald still, bald feurig, bald scheinbar ganz verpufft, ganz verpufft.
Doch der Durchschnittsmann und die Durchschnittsfrau haben nicht genug „Mumm",
um das Geschlechtliche in seiner Vielgestalt hinzunehmen. Sie verlangen grobe,
primitive geschlechtliche Begierde, immer verlangen sie nur das, und wenn es
nicht da ist, dann wird bumms und bäng! - die ganze Geschichte in Stücke
geschlagen. Ich laß mich scheiden! Ich laß mich scheiden!
Ich habe es so satt, daß mir dauernd gesagt wird, ich wolle die Menschheit in
den Urzustand von Barbaren zurückversetzen. Als ob der moderne Großstädter nicht
der ungefähr primitivste, barbarischste Rohling wäre, den es je gegeben hat,
wenn es sich um die Beziehung zwischen Mann und Frau dreht. In unsrer
vielgepriesenen Zivilisation sehe ich nur, daß Männer und Frauen einander
gefühlsmäßig und seelisch zerstören, und ich verlange weiter nichts, als daß sie
innehalten und ein wenig nachdenken.
Denn Sex bedeutet für mich die Beziehung zwischen Mann und Frau in ihrer
Ganzheit. Diese Beziehung ist aber viel größer, als wir es wissen. Wir kennen
nur ein paar simple Erscheinungsformen: Mätresse, Ehefrau, Mutter, Schatz. Die
Frau ist wie ein Idol oder wie eine Marionette: ständig wird sie gezwungen, die
eine oder andre Rolle zu spielen: als Schatz, als Mätresse, als Ehefrau oder als
Mutter. Wenn wir doch diesen starren Rahmen durchbrechen und begreifen könnten,
daß die Frau ein Fluß ist, ein Lebensstrom, ganz anders als der Lebensstrom des
Mannes, und daß jeder Fluß in seinem eigenen Bett fließen muß, ohne über die
Ufer zu treten, und daß die Beziehung zwischen Mann und Frau wie ein
Weiterfluten der beiden Flüsse ist, Seite an Seite, manchmal sogar sich
vermischend, dann wieder sich trennend und weiterziehend. Es ist eine
lebenslängliche Veränderung und ein lebenslängliches Weiterziehen. Und das
verstehe ich unter Sex. Zu gewissen Zeiten verschwindet die SexBegierde völlig.
Doch das Dahinströmen geht trotzdem weiter, ohne aufzuhören, und das ist das
Strömen des lebendigen Geschlechts, der Beziehung zwischen Mann und Frau, die
ein ganzes Leben währt und von der die SexBegierde nur eine, wenn auch eine sehr
lebensprühende, Manifestation ist.
D. H. Lawrence (1930)
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