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Nottingham und das Revier
Ich wurde vor fast vierzig Jahren in Eastwood geboren, einer kleinen
Bergarbeitersiedlung mit dreitausend Seelen. Der Ort liegt etwa acht Meilen von
Nottingham und eine Meile von dem kleinen Fluß Erewash entfernt. Ungefähr
sechzig Jahre vor meiner Geburt hatten B. W. & Co. die Kohlenzechen eröffnet. Es
entstand Eastwood. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts muß es ein winziger Ort
gewesen sein, mit provisorischen Straßen und kleinen vierzimmrigen
Bergmannshäusern, die Hütten der alten Püttleute aus dem 18. Jahrhundert, die in
den verschiedenen kleinen Zechen arbeiteten: entweder in Stollen im Vorgebirge,
die vom Hang aus begehbar waren oder im Göpel, wo die Bergleute nacheinander von
einem Esel in einem Eimer hochgezogen wurden. Als mein Vater ein Kind war,
benutzte man diese Göpel noch.
Um 1820 hat dann die Bergwerksgesellschaft den ersten großen Schacht in den
Berg getrieben und die Anlage für die erste industrielle Zeche gebaut. Die
Zechendörfer hätten wie die lieblichen Hügeldörfer in Italien sein können. Doch
was geschah?
Die meisten der alten Bergmannshäuser wurden abgerissen; an der Nottingham
Hoad entstanden langweilige kleine Läden, und am Hang errichtete die
Gesellschaft die Neuen Gebäude, den Square (Platz). Diese Neuen Gebäude, ein
Block mit Innenhof, sind kleine Häuser mit vier Zimmern; die Front zeigt auf die
finstere Straße, die Rückseite mit einem winzigen Backsteinofen, einer niedrigen
Mauer, einem Abort und einer Aschengrube auf den trostlosen Innenhof.
Schon vor 50 Jahren waren diese Squares unbeliebt. Es war gewöhnlich, am
Square zu wohnen. Es war etwas weniger gewöhnlich, in der Breach zu wohnen: zwei
Reihen mit drei Blocks und einer Allee dazwischen. Und es war äußerst
gewöhnlich, äußerst erniedrigend, in der Dakins Row zu wohnen: zwei Reihen alter
Hütten, baufällige, schwarze Behausungen, die nicht weit vom Square auf dem
Hügel standen.
Wir wohnten in einem Eckhaus an der Breach. Ein Feldweg führte an einer
üppigen Weißdornhecke vorbei. Auf der anderen Seite war der Bach mit der alten
Schaf-Brücke und dahinter lagen die Wiesen. Das Leben hier war eine seltsame
Mischung aus Industrialismus und dem alten landwirtschaftlichen England
Shakespeares und Miltons. Die Menschen lebten eher instinktiv; Männer im Alter
meines Vaters konnten kaum lesen. Und auch die Grube machte die Menschen nicht
mechanisch. Im Gegenteil! Im Akkordsystem arbeiteten die Bergleute in enger
Gemeinschaft unter der Erde; sie kannten einander praktisch nackt, und eine
seltsame Vertrautheit verband sie. Am stärksten war dieses körperliche
Bewußtsein und diese Art der Vertrautheit in der Grube. Sobald die Männer in den
Tag hinaustraten blinzelten sie. Sie mußten ihren Rhythmus ändern. Trotzdem
brachten sie etwas von dieser dunklen Vertrautheit der Grube, von diesem Kontakt
ihrer nackten Körper mit nach oben. Mein Vater liebte die Grube. Er wurde mehr
als einmal schwer verletzt, aber er wollte die Arbeit nicht aufgeben.
Seine Gedanken lassen sich in keins der bestehenden sozialen Gefüge
eingliedern. Aber deshalb gelten sie doch: die Notwendigkeit einer Änderung
der gegenwärtigen sozialen Struktur wird dadurch nur noch dringlicher.
Lawrence war intelligent genug, um zu erkennen, daß die uns nötige
Gesellschaftsstruktur nicht von einer sogenannten „Demokratie" geliefert
werden könne, und seine Verachtung der politischen Ideologie trug ihm den
Schimpfnamen „Faschist" ein. Lawrence war kein Faschist. Er war, wenn man
seinen überaus individuellen Ansichten überhaupt eine allgemeine Bezeichnung
geben muß, eine besondere Art Anarchist. Herbert Read |
Die Bergleute hatten keinen Tag-Ehrgeiz und kein Tag-Bewußtsein. Sie mieden
den streng rationalen Aspekt des Lebens. Es bestand ein großer Unterschied
zwischen dem Bergmann, der höchstens ein paar Stunden das Tageslicht sah — im
Winter manchmal überhaupt nicht — und der Frau des Bergmanns, die den ganzen Tag
für sich hatte, wenn ihr Mann unter Tage war.
Englands wahre Tragödie ist in meinen Augen die Häßlichkeit. Das Land selbst
ist unglaublich schön; aber das von den Menschen gemachte England ist
scheußlich. Das große Verbrechen, das die besitzende Klasse und die Gründer der
Industrie in der glänzenden viktorianischen Zeit begingen, war, die Arbeiter zur
Häßlichkeit zu verurteilen: zur Häßlichkeit und Stillosigkeit, zur häßlichen
Umgebung, zu häßlichen Idealen, zur häßlichen Religion, zu häßlichen Hoffnungen,
zu häßlicher Liebe, zu häßlicher Kleidung, häßlichen Möbeln, häßlichen Häusern
und zu häßlichen Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Für die
Seele des Menschen ist Schönheit wichtiger als Brot. Die Mittelschicht jubelt,
wenn sich Bergarbeiter Klaviere anschaffen — aber ist ein Klavier nicht einfach
der blinde Griff nach Schönheit? Für die Frauen mag es Besitz, ein Möbelstück,
etwas zum Protzen sein. Aber wenn ihr die alten Bergleute seht, wie sie Klavier
üben oder mit seltsam verklärten Gesichtern ihren Töchtern lauschen, die „The
Maiden's Prayer" („Das Gebet der Jungfrau") spielen — dann begreift ihr die
blinde ungestillte Sehnsucht nach Schönheit.
D. H. Lawrence 1929
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