Peter Gill, playwright and theatre director
Nottingham
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Nottingham und das Revier

Ich wurde vor fast vierzig Jahren in Eastwood geboren, einer kleinen Bergarbeitersiedlung mit dreitausend Seelen. Der Ort liegt etwa acht Meilen von Nottingham und eine Meile von dem kleinen Fluß Erewash entfernt. Ungefähr sechzig Jahre vor meiner Geburt hatten B. W. & Co. die Kohlenzechen eröffnet. Es entstand Eastwood. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts muß es ein winziger Ort gewesen sein, mit provisorischen Straßen und kleinen vierzimmrigen Bergmannshäusern, die Hütten der alten Püttleute aus dem 18. Jahrhundert, die in den verschiedenen kleinen Zechen arbeiteten: entweder in Stollen im Vorgebirge, die vom Hang aus begehbar waren oder im Göpel, wo die Bergleute nacheinander von einem Esel in einem Eimer hochgezogen wurden. Als mein Vater ein Kind war, benutzte man diese Göpel noch.

Um 1820 hat dann die Bergwerksgesellschaft den ersten großen Schacht in den Berg getrieben und die Anlage für die erste industrielle Zeche gebaut. Die Zechendörfer hätten wie die lieblichen Hügeldörfer in Italien sein können. Doch was geschah?

Die meisten der alten Bergmannshäuser wurden abgerissen; an der Nottingham Hoad entstanden langweilige kleine Läden, und am Hang errichtete die Gesellschaft die Neuen Gebäude, den Square (Platz). Diese Neuen Gebäude, ein Block mit Innenhof, sind kleine Häuser mit vier Zimmern; die Front zeigt auf die finstere Straße, die Rückseite mit einem winzigen Backsteinofen, einer niedrigen Mauer, einem Abort und einer Aschengrube auf den trostlosen Innenhof.

Schon vor 50 Jahren waren diese Squares unbeliebt. Es war gewöhnlich, am Square zu wohnen. Es war etwas weniger gewöhnlich, in der Breach zu wohnen: zwei Reihen mit drei Blocks und einer Allee dazwischen. Und es war äußerst gewöhnlich, äußerst erniedrigend, in der Dakins Row zu wohnen: zwei Reihen alter Hütten, baufällige, schwarze Behausungen, die nicht weit vom Square auf dem Hügel standen.

Wir wohnten in einem Eckhaus an der Breach. Ein Feldweg führte an einer üppigen Weißdornhecke vorbei. Auf der anderen Seite war der Bach mit der alten Schaf-Brücke und dahinter lagen die Wiesen. Das Leben hier war eine seltsame Mischung aus Industrialismus und dem alten landwirtschaftlichen England Shakespeares und Miltons. Die Menschen lebten eher instinktiv; Männer im Alter meines Vaters konnten kaum lesen. Und auch die Grube machte die Menschen nicht mechanisch. Im Gegenteil! Im Akkordsystem arbeiteten die Bergleute in enger Gemeinschaft unter der Erde; sie kannten einander praktisch nackt, und eine seltsame Vertrautheit verband sie. Am stärksten war dieses körperliche Bewußtsein und diese Art der Vertrautheit in der Grube. Sobald die Männer in den Tag hinaustraten blinzelten sie. Sie mußten ihren Rhythmus ändern. Trotzdem brachten sie etwas von dieser dunklen Vertrautheit der Grube, von diesem Kontakt ihrer nackten Körper mit nach oben. Mein Vater liebte die Grube. Er wurde mehr als einmal schwer verletzt, aber er wollte die Arbeit nicht aufgeben.

Seine Gedanken lassen sich in keins der bestehenden sozialen Gefüge eingliedern. Aber deshalb gelten sie doch: die Notwendigkeit einer Änderung der gegenwärtigen sozialen Struktur wird dadurch nur noch dringlicher. Lawrence war intelligent genug, um zu erkennen, daß die uns nötige Gesellschaftsstruktur nicht von einer sogenannten „Demokratie" geliefert werden könne, und seine Verachtung der politischen Ideologie trug ihm den Schimpfnamen „Faschist" ein. Lawrence war kein Faschist. Er war, wenn man seinen überaus individuellen Ansichten überhaupt eine allgemeine Bezeichnung geben muß, eine besondere Art Anarchist.  Herbert Read

Die Bergleute hatten keinen Tag-Ehrgeiz und kein Tag-Bewußtsein. Sie mieden den streng rationalen Aspekt des Lebens. Es bestand ein großer Unterschied zwischen dem Bergmann, der höchstens ein paar Stunden das Tageslicht sah — im Winter manchmal überhaupt nicht — und der Frau des Bergmanns, die den ganzen Tag für sich hatte, wenn ihr Mann unter Tage war.

Englands wahre Tragödie ist in meinen Augen die Häßlichkeit. Das Land selbst ist unglaublich schön; aber das von den Menschen gemachte England ist scheußlich. Das große Verbrechen, das die besitzende Klasse und die Gründer der Industrie in der glänzenden viktorianischen Zeit begingen, war, die Arbeiter zur Häßlichkeit zu verurteilen: zur Häßlichkeit und Stillosigkeit, zur häßlichen Umgebung, zu häßlichen Idealen, zur häßlichen Religion, zu häßlichen Hoffnungen, zu häßlicher Liebe, zu häßlicher Kleidung, häßlichen Möbeln, häßlichen Häusern und zu häßlichen Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Für die Seele des Menschen ist Schönheit wichtiger als Brot. Die Mittelschicht jubelt, wenn sich Bergarbeiter Klaviere anschaffen — aber ist ein Klavier nicht einfach der blinde Griff nach Schönheit? Für die Frauen mag es Besitz, ein Möbelstück, etwas zum Protzen sein. Aber wenn ihr die alten Bergleute seht, wie sie Klavier üben oder mit seltsam verklärten Gesichtern ihren Töchtern lauschen, die „The Maiden's Prayer" („Das Gebet der Jungfrau") spielen — dann begreift ihr die blinde ungestillte Sehnsucht nach Schönheit.

D. H. Lawrence 1929

 

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Last modified: 2012-03-15